Ode an die Ablenkung

Mir ist die Lust zum Schreiben abhandengekommen. Irgendwann im pandemisch bedingten Eremitentum. Bei aller intrinsisch motivierten Kreativität ist Schreiben doch ein mindestens so ausgeklügelter Prozess wie die Verdauung von Wiederkäuern. Ohne Gras zu fressen, gibt die Kuh keine Milch. Im Gegensatz zu Monogastriern, können Wiederkäuer auch Zellulose verdauen. Für Menschen ist sie Ballaststoff einerseits, aber auch ein Rohstoff für das Papier, auf dem wir Inspirierendes lesen können, was – angemessen verdaut – wiederum als geistig nahrhafte Milch in Erscheinung treten kann. Ein Wiederkäuer braucht für das Wandeln von Gras in Milch seine Vormägen. Dort wird resorbiert und fermentiert, damit vom schwer verdaulichen Grün eben mehr als nur Mist übrig bleibt. Nun war der Lesestoff zu keiner Zeit knapp, auch in den vergangenen Jahren nicht. Woran es mangelte, war die für Resorption, Fermentation und gesunden Ruktus nötige Umgebung. Was für die Kuh die Mikroorganismen sind, ist für den Menschen die Auseinandersetzung mit der Welt, der Austausch mit den Ansichten und Einsichten seiner mitdenkenden Artgenossen.

Lange vor der Pandemie bereits war ich von den Vorzügen regelmässiger Homeofficetage überzeugt. So begann ich den politisch verordneten Innendienst schon nach kurzer Eingewöhnungszeit durchaus zu geniessen. Als aus der krisenbedingten Not dann allerdings eine unternehmerische Tugend wurde und sich mein Arbeitsmodell von demnächst hybrid auf dauerhaft remote änderte, fühlte sich der Zustand auch genau so an: abgeschieden. Wohl boten die logistischen Veränderungen auch Chancen: die Pendelzeit liess sich sportlich nutzen, statt vom Take-away zu futtern, wurde frisch gekocht und auf der eigenen Couch klappte es endlich auch mit dem Powernap. Dennoch fühlte sich das Ganze bald an, wie die brutale Übererfüllung eines unerhörten Wunsches, dessen Äusserung man ob der geweckten Geister nun bitterlich bereut. Ich konnte zwar vom Büro aus ohne Mühe auch das Gras des Nachbarn sehen, doch allein vom Anstarren wurde auch das nicht grüner. Natürlich, es ist ein Privileg, nach so vielen Jahren im Grossraumbüro auch ohne Zugehörigkeit zur Teppichetage wieder ein eigenes Büro zu haben. Man arbeitet effizienter, trifft sich fokussierter und liefert gezielter. Andererseits ergeht es einem mit dem papierlosen Büro und der virtuellen Kommunikation ähnlich wie beim Online-Medienkonsum: es fehlt an Beifang. Womit wir wieder bei den Ballaststoffen wären.

Stille tut gut, keine Frage. Wer in Ruhe und ohne Störungen arbeiten kann, hat merklich weniger Stress. Innere Dialoge sortieren in Echtzeit die Gedanken, man ist konzentrierter und kommt mit dem Tagwerk zügig voran. Gelesen und gelernt wird bedürfnisorientiert, Lösungen und Antworten sucht man immer häufiger nach dem Just-in-Time Prinzip. Man orientiert sich am Bedarf und hält Vorratsmengen und Lagerhaltung auf minimalem Niveau. In all der Aufgeräumtheit stolpert man nicht mehr über Nebenschauplätze, kommt nur noch selten vom Thema ab und verliert mangels Ablenkung kaum mehr den Faden. Für mich als Projektleiterin ist das zweifellos der ultimative Traum eines zielgerichteten Arbeitsprozesses. Wäre da nicht der Tunnelblick. Genau: die männliche Normalperspektive. Mein halbes Leben lang war ich davon überzeugt, der Röhrenblick käme vom Y-Chromosom, doch nun brachte mich die Heimarbeit zu neuen Erkenntnissen: es liegt an der mangelnden Ablenkung.

Niemand pflanzt sich mehr übergriffig an meinen Schreibtisch, flüstert hastig eine kaum hörbare Entschuldigung und platzt dann mit einer als Anfrage getarnten Handlungsaufforderung gnadenlos in meine Produktivitätsblase. Ich erinnere mich an diese Interruptionen mit einem allein durch die Vorstellung noch immer getriggerten Gefühl des unmittelbar bevorstehenden Berstens einer riesigen Wasserblase. Ein Vorgang, der zumindest die regelmässige Auffrischung des Reservoirs ermöglichte. Ob all der Ruhe und Konzentration vergisst man gerne das Trinken, hat man dann schliesslich Durst, schmeckt das Wasser neben einem schal und abgestanden. Im Büro war jeder biologisch motivierte Gang mit verbalem Austausch verbunden, der irgendwo zwischen höflicher Einladung zum unverbindlichen Stimmungsbericht und direkter Einforderung eines längst überfälligen Rapports lag. Zuhause begegnet man bestenfalls der Katze, mit der man wohl kommunizieren, aber nicht diskutieren kann. So bemühe ich auf der Suche nach Reibung und Inspiration gelegentlich den einzigen anwesenden und dialogfähigen Bürokollegen ChatGPT. D’Isabel het Müeh mit de Chüeh, und ich mit einem originellen Titel: | … „Vom Papiermangel zum Schreibstau: Eine Ode an die Ablenkung“. Damit lässt sich doch etwas anfangen!

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